Über das Verstummen

Ich muss zugeben, dass ich tatsächlich gehofft habe, dass mit der Impfung alles vorbei ist – dass die Aufgeregten und Ängstlichen sich endlich beruhigen würden und der Staat aufhören würde, in die privatesten Räume der Menschen hineinzuregieren, dass wir endlich wieder zu vernünftigen Debatten übergingen, dass mit der individuellen Entscheidung für oder gegen eine Impfung die persönliche Risikoabwägung und Lebensführung wieder respektiert würde.

Das Gegenteil aber ist der Fall. Gerade in den letzten Wochen ist sowohl eine Verrohung des Diskurses zu beobachten, als auch eine Hybris der politischen Entscheidungen, die ich mir so nicht ausgemalt habe. Politiker, die tatsächlich eine Test-, Impf-, Genesenenpflicht für öffentliche Verkehrsmittel beschließen – und dabei weit über ähnliche Regeln in beispielsweise Frankreich oder Italien hinausgehen, wo zumindest der Nahverkehr von diesen Regeln nicht betroffen ist. Was mit denen ist, die auf dem Land leben, wo es keine Teststationen gibt, oder die auch abends spontan ein Verkehrsmittel benutzen müssen, beleibt offen.

Oder Politiker, die nun lautstark eine Pflichtimpfung fordern – also einen medizinischen Zwangseingriff für wohl ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung. Das erschreckt mich.

Was mich aber noch mehr erschreckt, was mich manchmal schier zur Verzweiflung treibt, ist der Diskurs innerhalb der Gesellschaft. Das sind die Menschen, die Ungeimpfte pauschal als unsolidarisch bezeichnen, als Asoziale, die es aus der Gesellschaft auszugrenzen gälte – ohne auch nur den Versuch zu machen, zu verstehen, was denn die Gründe sind, sich nicht für diese Impfung zu entscheiden.

Es wird gefordert, die Menschen nicht mehr in den Kliniken zu behandeln, und damit das Grundprinzip der Solidargemeinschaft abzuschaffen – medizinische Versorgung soll laut solcher Forderungen nicht mehr nach Notwendigkeit oder Erfolgsaussicht geschehen, sondern aufgrund konformen Verhaltens. Würde dieser Forderung stattgegeben, so müsste man auch Übergewichtigen oder Rauchern eine Behandlung im Zweifelsfall verweigern – die gesundheitlichen Auswirkungen von Übergewicht und Rauchen sind immerhin seit Jahrzehnten bekannt, und auch diese Menschen belegen wertvolle Intensivbetten.

Ein Mitglied des Ethikrats hat gefordert, dass Ungeimpften die Ausreise verweigert werden soll – politische Konformität als Voraussetzung für Freizügigkeit. Ich fühle mich erinnert an die DDR, und frage mich, was das eigentlich für eine Ethik sein soll, in deren Namen der Mann berät.

Vor allem aber erschreckt mich, dass das Gespräch zunehmend verweigert wird. Es heißt, dass man mit „Impfgegnern“ nicht reden soll, sie nicht treffen und eigentlich aus dem persönlichen Kreis auszuschließen hat – und viele scheinen dieser Aufforderung zu folgen. Ich habe eine solche Verweigerung von Diskussionen in den letzten Wochen gehäuft erlebt, unter anderem auch durch alte Bekannte, frühere Freunde.

Sobald man aber aufhört miteinander zu sprechen, verhindert man Verständnis und Mitgefühl für einander. Je weniger menschliche Eigenschaften man dem Gegenüber zugesteht, und Vernunfts- und Diskussionsfähigkeit gehören maßgeblich dazu, desto weniger Mitgefühl ist man bereit, dem anderen gegenüber aufzubringen – dies wurde schon in zahlreichen psychologischen Studien bewiesen, welche sich beispielsweise mit gruppenbezogenem Menschenhass beschäftigten. Je „unmenschlicher“ und fremder der Andere wahrgenommen wird, desto eher sind Menschen auch bereit, ihm grundlegende Rechte und grundlegenden Respekt vorzuenthalten. Früher oder später zieht das Ausgrenzung, Bedrohung, bis hin zu tatsächlicher Gewalt nach sich.

Der derzeitige Ruf nach Zwangseingriffen spiegelt diese Verachtung gegenüber den Rechten der Andersdenkenden auf beeindruckende Weise wieder. Die Integrität des Körpers wird nicht mehr akzeptiert, der Staat soll bis auf die Zellebene in den „Bürger“ hineinregieren dürfen.

Während der staatliche Übergriff sich bis jetzt darauf beschränkte, gewisse Manipulationen des eigenen Körpers zu verbieten (Schwangerschaftsabbruch, Verbot des Konsums gewisser Substanzen), soll nun also auch das explizite Gebot von körperlichen Eingriffen normalisiert werden. Österreich macht es vor, und ich befürchte, dass Deutschland es nachmachen wird.

Dass zur Untermauerung der Forderung nach staatlicher Impfpflicht immer wieder die Wissenschaft als Argument herangezogen wird ist dabei perfide. Erstens sehe ich keine Kausalität zwischen Impfquote und Inzidenz (den Spaß, das zu recherchieren, lasse ich mal jedem selbst). Zweitens aber, und das ist wichtiger: Ich werde mich bei persönlichen Entscheidungen natürlich nicht nur auf Studien stützen, sondern durchaus auch nicht unmittelbar faktenbasierte Entscheidungen fällen. Einige Daten werden erst später zur Verfügung stehen, ich bin also auf meine unwissenschaftlichen Befürchtungen durchaus angewiesen – einige Gründe aber sind sogar schlicht unwissenschaftlich, und dennoch zu respektieren.

Viele Langzeitwirkungen und Spätfolgen von Substanzen zeigen sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten (auch Rauchen führt erst über Jahre zu einer statistisch relevanten Erhöhung der Krebsrate) oder in der nächsten Generation (wo die „Kreidezähne“ bei Kindern herkommen ist, so weit ich weiß, immer noch nicht abschließend geklärt – wahrscheinlich aber sind es Weichmacher, die die Mutter vor der Geburt aufgenommen hat, und die jahrelang als bedenkenlos angesehen wurden).

Darüber hinaus brauche ich für gewisse Entscheidungen keine wissenschaftlichen Fakten, sondern nehme mir die Freiheit, einer philosophischen Begründung zu folgen. Das schließt unter anderem meinen Vorbehalt gegen Gentechnik mit ein, von deren Nutzung bei Nahrungsmitteln bis jetzt nicht bekannt ist, dass sie Schäden verursacht. Auch meine Ablehnung von Atomkraft ist statistisch gesehen unwissenschaftlicher Unsinn – ist es doch eine Möglichkeit der Energiegewinnung mit relativ kleinem CO2-Ausstoß und einem wirklich verschwindend geringem Risiko für Unfälle und darauf folgende Verstrahlung. Auch Frauen, die sich für Hausgeburten entscheiden, entscheiden sich gegen den weitestgehenden Konsens von Gynäkologen. Oder Menschen, die eine Chemotherapie ablehnen gegen den von Onkologen. Oder oder oder. Dennoch halte ich die Entscheidungen für valide und respektabel – und bis vor kurzem schien mir das auch gesellschaftlicher Konsens zu sein.

Viele Entscheidungen unseres Lebens lassen sich nicht lediglich aufgrund wissenschaftlicher Fakten klären. Fakten mögen einen Einfluss haben, aber grundlegende Lebensentscheidungen bedürfen vor allem ethischer Abwägungen.

Insofern ist auch das Zurückziehen auf Statistiken und Zahlen schon ein Beginn der Kommunikationsverweigerung – wenn man lediglich Zahlen und positivistische Schlüsse als Begründung für persönliche Entscheidungen akzeptiert, so reduziert man den Menschen. Man entäußert einen maßgeblichen Aspekt menschlicher Würde – nämlich die Selbstbestimmtheit.