Die Regression des Willens

13.5.2021

Menschen sind dazu bereit, in der Anpassung an das Allgemeingültigkeit Beanspruchende ihre eigene Wahrnehmung der Verhältnisse als nachrangig einzuordnen. Menschen sind bereit, zu gehorchen, sich in hierarchische Strukturen einzufügen, Perspektiven und Haltungen einzunehmen, die ihnen suggeriert werden. Es ist auch möglich, Menschen Erinnerungen an Erlebnisse und Geschehen einzureden, die sie nie gehabt haben. Es ist ohne wirklichen Zwang möglich, Menschen dazu zu verleiten, den Mitmenschen zu bestrafen und zu quälen, Menschen zum Quälen von Menschen zu verführen, die sie nicht kennen.

Auf dieser Schrecklichkeit, auf diesem Grauenhaften des Menschen basiert ein Gros der zivilisatorischen Erscheinungen: Armeen, Polizei, Staat, die Industrie, der Krieg, das Gefängnis, die Justiz, die Schule, die Psychiatrie, kurz: all das was wir „das System“ nennen wollen.

Dieses System expandiert mit verschiedenen Stoßrichtungen: nach außen ans Ende der Welt durch das Imperiale, nach Innen durch die Normatierung und Regulierung des Zwischenmenschlichen in den intimsten Räumen des Sozialen. Und schließlich ins Innerste durch die Diktierung der Strukturen und Inhalte welche wir seelisch nutzen um uns zu uns selbst und zu der uns umgebenden Wirklichkeit in Beziehung zu setzen.

Das System diktiert die Sprache.

Der Anspruch dieses Systems ist demnach total; und es ist ihm inhärent, sich selbst nicht zu limitieren.

Einmal ungeachtet der Tatsache, dass der individuelle und kollektive Profit der durch die Kolaboration mit dem System erwirtschaftet wird einen Raubbau an der Substanz des Lebendigen selbst vorstellt: WIR haben die Infrastruktur!

Vor allem Anderen aber bin ich durch das totale Wir nicht nur der lebendigen Wirklichkeit in mir, sondern auch der lebendigen Wirklichkeit in Dir dermaßen entfremdet und abhold, dass ich Dich nicht mehr sehen kann. Stattdessen sehen ich Dich an – als Repräsentanz von etwas Größerem, von etwas Anderem, von etwas Fremdem.

Dieses, das Einzelne, den Einzelnen, ankränkelnde Andere ist das System des Wir, welches an die Stelle des Einzelnen in freier Gemeinschaft getreten, sich an die Stelle des selbstbestimmt Kooperierenden gedrängt hat. Aus der miteinander Arbeitenden wurde der Mitarbeiter und Zuarbeiter geschaffen, aus Kooperierenden wurden eine Kollaborateure. An die Stelle der Sebstbestimmtheit und Selbstverortung trat die Fremdverortung durch den selbstobjektivierenden Blick: „ich bin so und so“ anstatt „ICH WILL“.

Denn einen gemeinsamen Willen gibt es nicht. Eine gemeinschaftliche Willensbildung gibt es nicht. Wille und Wille kann in die selbe Richtung zielen, aber der lebendige Wille vermengt sich nicht mit dem lebendigen Willen Anderer. Das Wir entsteht nicht durch die Vereinigung des einzelnen Willens mit den einzelnen Willen der Anderen sondern durch die Aufgabe des Willens im Schweinetrog des Gemeinwillens. Dort büßt der Wille seine Lebendigkeit ein; er verliert sein Spontanes, er geht seiner Eigenheit verlustig, wird zu Fraß für die Säue, und also verdient der Gemeinwille auch den Namen Wille nicht, sondern soll heißen: Gravität, Strom, Tendenz.

So aber haben Wille und Wir einander als entgegengesetzt, und auch als feindlich zu gelten.

Psychogenetisch betrachtet ist die Selbsterhebung des Individuums aus dem Ozeanischen das Erwachen oder die Bildung des Eigenwillens. Der Eigenwille verortet sich im Umgang mit den Phänomenen; er verortet sich SELBST. Diese Verortung ist eigensinnig. Die systemischen Institution von Krippe bis Hochschule, von Gefängnis bis Psychiatrie, von Familie bis Kultgemeinschaft wirken der Individuation des eigenwilligen Menschenwesen hin zum Eigensinn diametral entgegen. Das so sich konstituierende Wir ist seiner Wirkung nach die Regression ist Säuglingshafte; das ist das Verwaltete.

Der lebendige Mensch, das lebendige Menschentum steht in einem unaussetzbaren Streit gegen die systemischen Übergriffe zur Normierung, Anpassung, Unterdückung und Negierung dessen was den Menschen von einem Mineral unterscheidet.

Nicht ohne Grund ist die klassische Metapher für das System des Wir die Maschine und die Pointe derselben ist der stilsicher uniformierte Massenmensch auf halber Wegstrecke zwischen Hiroshima und Auschwitz.