Der Autoritarismus als Neurose

18.5.2021

Eine Haltung und eine Einstellung ist als autoritär zu erachten, wenn sie menschliche Beziehungen in Gefälle einordnet. Das ist es, was Menschen einander zu Führern und Nachfolgern werden lässt, zu Befehlenden und Gehorchenden, Vordenkern und Nachdenkern macht.

Wohlgemerkt: beide, der Mächtigere und der Ohnmächtigere innerhalb einer Hierarchie, eines Machtverhältnisses, sind durch ihre Teilhabe und Teilnahme an der Veranstaltung und den Kontexten der Herrschaft entwürdigt; es ist letztlich unvereinbar mit Jenem was dem Menschen wesentlich ist: seine Selbstbestimmung.

Die allgemeine Bereitschaft, sich in hierarchische Strukturen – ob nun dominant oder subordiniert – einzufügen muss aber nicht als inhärenter Teil des menschlichen Wesens aufgefasst sein, ungeachtet der Tatsache, dass die Gesellschaften des Patriarchates offenbar nur diese eine Formatierung zulassen. Das Patriarchat ist menschheitsgeschichtlich recht neu.

Die Schulen drillen Kinder in diese kompetetive Zwischenmenschlichkeit hinein. Aber vorher schon prägt die Familie dieses grunsätzliche Schema, welches allen anderen Beziehungen in der Regel lebenslang zugrundegelegt werden wird.

In der Familie macht der Mensch – wohl ab jenem Augenblick der Bewusstwerdung seinerselbst – unausgesetzte Erfahrungen der absoluten Unterlegenheit. Jene, gegenüber denen ein junger Mensch aber unterlegen ist, sind nicht etwa gesunde, freie, selbstbestimmte Menschen, sondern in aller Regel selbst schwer traumatisierte Erwachsene, die ihrem eigenen Willen entfremdet wurden – von Anderen, die sich selbst wiederum auch fremd waren. Das Trauma der Willensbrechung wird von Generation zu Generation weitergereicht.

Diese Entfremdung der Erwachsenen vom lebendigen Willen und dem Eigensinn führt zwangsläufig zur Interpretation der Beziehung zu Kindern als ein Machtverhältnis. Und so führe man sich die dem Gedanken der Erziehung zugrundeliegende Idee einmal in ihrer ganzen Tragweite vor Augen: es geht einerseits nach wie vor und andererseits mehr denn je um eine Formung des Lebendigen im Dienste einer Zivilisation, die gerade die letzten Beweise ihrer Lebensfeindlichkeit zusammenträgt.

Dem Aufmerksamen ist Kindheit eine unausgesetzte Schikane der Negierung des Eigenwillens; Erziehung und Bildung nennt sich dieses qualvolle Prozedur des Austreibens jeden Eigensinns.

Wenn aber in den zwei Jahrzehnten bis zur legalen Volljährigkeit verinnerlicht wurde, dass man Probleme bekommt, wenn man sich widersetzt, aber belohnt wird, wenn man gehorcht, dann müssen schon sehr außergewöhnliche inner- und außerseelische Bedingungen vorliegen, damit ein Mensch überhaupt je den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, sich von der also innerlich gewordenen Bande der Moral mit Schuld und Scham als innerseelisch gewordene Sanktionsmechanismen zur Abwehr aller nonkonformen Strebungen und Impulse zu lösen, sich also in Richtung Eigenwillen, Autonomie, Selbstbestimmtheit, Herrschaftslosigkeit freizukämpfen; in aller Regel nämlich stellt die Selbstverortung auf der Achse von Macht und Ohnmacht eine lebenslang stabile Prägung im Dienste der Menschenverwertung dar.

Jeder Versuch, jede Anstrengung herrschaftdelegimierenden Handelns hat dieser individuellen intrapsychischen Verankerung der Hierachie Rechnung zu tragen. Wer dessen uneingedenk handelt läuft Gefahr, den eigentlichen Kerkermeister der Menschheitsverknastung schlichtweg zu übersehen.

Die aber, die uns im Inneren knechten, heißen Schuld und Scham.

Diese sind der Widerhall von Strafe und Verachtung, derer der Mensch in Zeiten seiner Kindheit teilhaftig wurde.

Wer frei leben will, wird sich nicht damit begnügen sich nur im Äußeren, in den Sphären des Sozialen und des Politischen, seiner Ketten zu entledigen. Im Gegenteil: wer lediglich dort seinen Streit zu bestehen sucht, wird notgedrungen an seinen inneren Aufsehern scheitern. Denn wer frei leben will, hat neben Staat und Gott auch zu lernen, Mutter und Vater in sich zu bezwingen. Das heißt: Scham und Schuld in der eigenen Seele den Garaus zu bereiten.